Rezension: The Northman

Wikinger sind überall. Als kinderfreundliche Zeichentrickserie „Wickie und die starken Männer“ sind sie genauso zu finden, wie als blut- und ränkespielreiche Familiensaga à la „Vikings“. Mal schöpfen moderne Erzählungen aus der nordischen Mythologie, etwa das Spiel „God of War“ oder die Buchreihe „Magnus Chase“, mal dienen Wikinger als Inspiration für Fantasy-Kulturen wie die Hexer’schen Skelliger und Skyrims Nords. Mal wird das Setting mit SciFi-Anleihen aufgepeppt, wie es „Outlander“ (der Film, nicht die Serie) oder „Assassin’s Creed Valhalla“ demonstrieren. Und mit „Erik der Wikinger“ gibt es sogar eine Parodie auf das Genre.

Man könnte also meinen, das Wikinger-Thema wäre bereits in all seinen Facetten ergiebig auserzählt. Kann der 2022 erschienene Film „The Northman“ von Regisseur Robert Eggers da überhaupt noch etwas Neues bieten?

Zum Glück ist die Antwort ein klares Ja. Was genau die 137-minütige Racheerzählung von der Konkurrenz abhebt, beantworte ich in dieser Kurzkritik.

Doch zunächst einmal zum Plot: Der isländische Prinz Amleth muss als Junge den Mord an seinem königlichen Vater durch den eigenen Onkel mitansehen. Um das väterliche Schicksal nicht zu teilen, flieht er und kehrt Jahre später zurück, um Rache am thronräuberischen Onkel zu nehmen.

Klingt nicht sonderlich innovativ, oder? Doch – wie so häufig – macht nicht die Idee, sondern deren Umsetzung letztendlich die Qualität einer Geschichte aus.

Zunächst einmal besticht Eggers‘ Werk durch historische Genauigkeit und Detailverliebtheit. Ich bin bei Weitem kein Experte, was das skandinavische Mittelalter angeht. Dennoch sind mir einige Dinge aufgefallen, die „The Northman“ richtig macht, viele andere Wikinger-Geschichten jedoch nicht. Beispielsweise vermeidet Eggers die fälschliche Verwendung des Begriffs „Wikinger“ als Volksbezeichnung und zeigt erst recht keine Hörnerhelme in der Schlacht. Stattdessen gibt es wunderbare Details, die scheinbar gar nicht ins landläufige Bild der Nordmänner passen, jedoch historisch belegt sind. So kommt es in „The Northman“ zu einer Partie knattleikr, einem mittelalterlich-isländischen Schlagballspiel, das Rugby und Cricket zu einem blutigen Spektakel vermischt.

Trotz – oder gerade wegen – der historischen Akkuratesse mischen sich in die Handlung außerdem mythologische Elemente. Diese werden derart geschickt dargestellt, dass die Zuschauenden stets für sich entscheiden können, ob da gerade wirklich Walküren durchs Bild fliegen, ein untoter draugr gegen Amleth antritt und Verstorbene nach Walhalla aufsteigen – oder alles nur im Kopf der tiefgläubigen Charaktere stattfindet.

Deren Religiosität bedeutet jedoch nicht, dass sie allesamt Heilige sind. Ganz im Gegenteil, sowohl Amleth als auch seine Widersacher lassen sich regelmäßig zu grausamen Gewalttaten herab, was der Film auch nicht verschleiert: Blut fließt in Strömen, Körperteile fliegen, untermalt vom brachialen Soundtrack. Während sich die Toten auf Amleths Rachefeldzug häufen, bleibt eine klare Trennung in Gut und Böse aus. Überall werden Intrigen gesponnen, lodern verborgene Absichten und Sehnsüchte … nur um durch eine im Zorn geschwungene Klinge zunichtegemacht zu werden.

Und so glaubt man am Ende des Filmes zu verstehen, warum die Nordmänner ihre Erzählungen vom Kriegerhimmel Walhalla brauchten, um sich den in ihrer Lebenswelt allzu gegenwärtigen Gewalttod zu versüßen.

(zuerst am 28. April 2022 auf Instagram veröffentlicht)

Bewertung:
4/5

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