The Council – oder: Der Fluch der Interaktivität

Das größte Potenzial des Mediums Videospiel ist gleichzeitig dessen größte Herausforderung: Interaktivität. Spielende können sich ihren eigenen Weg durch virtuelle Welten bahnen, einzigartige Erlebnisse machen und individuelle Entscheidungen treffen. Für Entwickler*innen bedeutet das einen Haufen Arbeit: Sie müssen eine Vielzahl möglicher Pfade mitbedenken und Blut, Schweiß und Tränen in Inhalte stecken, die vielleicht nur ein Bruchteil der Spielenden zu sehen bekommt. Zwar bietet prozedurale Generierung schon seit Längerem ein Werkzeug, Spielende langfristig mit neuen Leveln oder gänzlich individuellen Spielwelten zu versorgen, komplexe Geschichten aber bleiben Handarbeit. Eine Erzählung mit Emotionen, Tiefe und Bedeutsamkeit zu versehen, gelingt selten ohne die Kreativität menschlicher Geschichtenweber*innen – und deren Mühsal wächst mit jeder Verzweigung der Erzählstränge. Kein Wunder also, dass sich viele Games mit Schlauchleveln und simplen Narrativen behelfen. Selbst Spiele, die den Entscheidungen ihrer Spielerschaft größtmögliche erzählerische Bedeutung zuschreiben (etwa „Life is Strange“ oder die Telltale-Adventures), weisen bei genauerem Hinsehen weniger Freiheit auf als angenommen. Die beiden Pole scheinen unvereinbar: Entscheiden wir uns für die menschgemachte Qualität einer linearen Erzählung, deren Wahlmöglichkeiten höchstens Schein sind? Oder wollen wir unbeschränkte Freiheit und verzichten dafür auf eine Geschichte, um deren Bedeutung sich jemand Gedanken gemacht hat? Warum wählen müssen, dachte 2018 ein französisches Entwicklerstudio namens Big Bad Wolf. Um zu beweisen, dass Entscheidungsfreiheit und erzählerische Finesse sich keineswegs ausschließen, versprach das Team in der Trailerkampagne zu ihrem Erstling „The Council“ nichts Geringeres, als das Genre der narrativen Adventures völlig neu zu denken. Ein überambitioniertes Ziel?

„The Council“ spielt 1793. Die Französische Revolution entfaltet ihre blutigen Konsequenzen, die Vereinigten Staaten haben sich Unabhängigkeit erkämpft, der europäische Kontinent ist – wie so häufig – in politischem Aufruhr. Um diplomatisch zu vermitteln, lädt der mysteriöse Lord Mortimer allerlei hochrangige Staatsleute auf seine Privatinsel, darunter US-Präsident George Washington und den französischen General Napoléon Bonaparte. Auch unser Protagonist, Louis de Richet, ist geladen. Der junge Mann ist zunächst auf der Suche nach seiner Mutter, Anführerin eines mächtigen Geheimbundes. Doch schon bald wird auch er ins Intrigenspiel hineingezogen. Die Geschichte wird über fünf Episoden erzählt und beschäftigt etwa 15-20 Stunden. Vertont ist sie nur auf Englisch – vielleicht besser so, betrachtet man die schaurigen Sprachfetzen, die ein preußischer Delegat im Laufe der Erzählung äußert und die wohl vom Google Übersetzer ausgespuckt wurden.

Ästhetisch wartet das Spiel, sobald man die Frameraten durch umständliches Herumgefummel an den Spieldateien in den Griff bekommt, mit für das Budget erstaunlich hübscher Grafik auf. Die barocken Räume des Anwesens entfalten einen einzigartigen Charme, ihre bilderverhangenen Wände erzählen schweigend Geschichten. Im Hintergrund dudelt ein Soundtrack, der Neugier, Skurrilität und Rätsellust mit der unterschwelligen Bedrohlichkeit des Settings verknüpft. Auch die Charaktermodelle sind gelungen, obwohl die Animationen recht steif sind. Wo andere Kleintitel sich auf graphischen Minimalismus oder visuelle Zweidimensionalität beschränken, fährt „The Council“ eine pompöse Bühne auf, um seine Handlung zu rahmen.

Aber hält der Bühneninhalt, was er verspricht? Narrativ stehen zunächst alle Zeichen auf Politthriller: Gekonnt baut das Spiel eine Reihe von Mysterien auf, führt häppchenweise an die Intrigen der Insel heran, lässt übers politische Parkett tanzen. Durch dieses Gewirr steuere ich Louis aus einer Third-Person-Ansicht, klicke auf alles und jeden, über dem ein leuchtender Punkt schwebt – besonders die Figuren. Die Erzählung glänzt mit einem umfangreichen Charakteraufgebot: Historische wie fiktive Persönlichkeiten werden in angenehmem Tempo eingeführt und weisen meist mehr Facetten auf als angenommen. Interaktion erfolgt durch klassische Dialoge, in denen ich Louis‘ Antworten wähle. Zudem kommt es regelmäßig zu „Konfrontationen“: Unter Zeitdruck muss ich die Schwächen meines Gegenübers ausnutzen, um an Informationen zu gelangen oder Charaktere auf meine Seite zu ziehen. So setzt die Spielmechanik ein potenziell langweiliges Ränkespiel in reizvolle Interaktivität um. Auch Rätseleinlagen werden eingestreut, der Sog des Unbekannten wächst, ich will unbedingt weiterspielen …

Bis in der Spielmitte ein plump servierter Twist die bisherige Atmosphäre zerreißt. Die Erzählung kippt ins Phantastische, interessante Figuren werden an den Rand gedrängt. Zwar kündigt sich das Übernatürliche schon im Intro an, dennoch wirken die Story-Hälften unzusammenhängend. Das Ende lässt mich trotz oberflächlicher Dramatik kalt. Als der Abspann über den Bildschirm flimmert, kann ich bloß mit den Schultern zucken. „The Council“ hat ein Schicksal erlitten, das viele Geschichten teilen, die ihre Handlung auf Geheimniskrämerei aufbauen: Die Auflösung kann mit den geweckten Erwartungen nicht mithalten (man denke nur an die Serie „Lost“). Der Geschichte fehlt Feinschliff und Kohärenz – und damit fällt die zentrale Säule eines narrativen Adventures weg. Mission Innovation gescheitert? Dann öffne ich die Steam-Diskussionsseite …

Und erkenne: Was ich beschrieben habe, war MEINE Spielerfahrung. Das Geschehen auf der Insel kann jedoch von Durchgang zu Durchgang stark variieren. Die Wahlmöglichkeiten sind kein leeres Versprechen: Wer die Erzählung überlebt, wie sie endet, wer triumphiert, liegt in unserer Hand. Stöbern wir alle wichtigen Hinweise auf? Brillieren wir in Dialogen oder begehen wir einen diplomatischen Fauxpas? Dabei ist nicht nur unser psychoanalytisches Geschick wichtig, auch ein Aspekt, den ich bislang unterschlagen habe, kommt zum Tragen: Rollenspiel-Elemente. Zu Spielbeginn wählen wir eine Klasse, die aber nicht – wie aus Fantasy-Rollenspielen gewohnt – Fertigkeiten in Schwert-, Bogen- oder Magiehandhabung mit sich bringt, sondern Geschichtswissen, Etikette oder detektivische Befragungstechniken. Diese erweitern Louis‘ Antwortspektrum und bahnen den Weg zu wertvollen Informationen. Zugleich erleichtern sie die regelmäßigen Rätseleinlagen, die ebenfalls zur Individualisierung der Erzählerfahrung beitragen. Sie funktionieren nämlich nicht nach dem Schema: lösen, dann geht’s weiter. Wir können hier durchaus scheitern – mit teils garstigen Konsequenzen. Der Knobelgrad rangiert zwischen spannend-fordernd und verwirrend-unfair. Behandelt werden – neben klassischen Logikpuzzles – auch mythologische Thematiken. Wer bibelfest ist oder vertraut mit griechischen Sagen, hat einen Vorteil. Parallel können Kenntnisse bezüglich der Politik des 18. Jahrhunderts in Dialogen helfen. Dadurch entsteht eine spannende Symbiose zwischen Spieler*in und Louis, die gleichzeitig ergänzt und verbindet. Dieses Rollenspiel-System fördert die Wiederspielbarkeit, zumal der Einsatz von Louis‘ Fähigkeiten recht limitiert ist. Zumindest bis zum letzten Spieldrittel: Inzwischen haben wir die meisten Fähigkeiten längst erlernt, das Spielsystem hebelt sich selbst aus. Immerhin bleiben uns noch narrative Wegwahlen überlassen.

Hält „The Council“ sein Versprechen von Interaktivität? Definitiv: Im Zusammenwirken von Gameplay und Erzählung entsteht ein breit gewebtes Netz aus Geschichtsfäden, das jeden Spieldurchlauf zu einem individuellen Erlebnis macht. Wo andere Spiele dies mittels Kampfsystemen, direkter Interaktion mit der Spielwelt und Sandbox-Elementen vollbringen, stützt sich „The Council“ fast ausschließlich auf Dialoge und eine Vielzahl von Erzählsträngen. Die zahlreichen Entscheidungsmöglichkeiten sind tatsächlich beeindruckend. Gleichzeitig fehlt die Abrundung einer stringenten Geschichte – eine Folge der überbordenden Freiheit? Eine solche Erklärung scheint auf der Hand zu liegen: Wer seine Arbeitskraft – besonders als kleines Studio – auf viele parallele Handlungen verteilt, hat zwangsläufig weniger Kapazitäten für den Feinschliff einzelner Abschnitte übrig. Bleiben Qualität und Interaktivität unvereinbar? Zumindest im Fall von „The Council“ ist ein anderer Fallstrick denkbar, der die Geschichte ins Straucheln brachte. Die fünf Episoden des Spiels wurden nach und nach von März bis Dezember 2018 veröffentlicht. Gut möglich, dass die Vision der Geschichte in diesem Zeitraum deutlichen Änderungen unterworfen wurde, die jedoch nicht rückgreifend auf frühere Episoden übertragen werden konnten. Dies sorgte für schließlich für den narrativen Bruch, nicht (nur) Überlastung durch zahlreiche Erzählstränge.

Auch wenn „The Council“ letztlich nicht den ultimativen Beweis hierfür antreten konnte, schließen sich Interaktivität und Qualität im Geschichtenerzählen nicht per se aus, sie können einander sogar befeuern. Es gilt eine Abwägung zu treffen – und die kann bei jeder Erzählung woanders liegen. Manche Geschichten florieren durch absolute Freiheit bei kaum wahrnehmbarer Hintergrundgeschichte, andernorts nehmen wir die vorgefertigte Bahn einer linearen Erzählung in Kauf, weil wir wissen, dass uns die Kunstschaffenden den bestmöglichen Pfad bereiten. Egal ob asphaltierte Hauptstraße oder dicht verzweigtes Netz von Trampelpfaden, letzten Endes bestimmt, was wir unterwegs erleben, die Qualität der Reise.

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