London produziert regelmäßig Tote. Nicht immer auf natürliche Weise. Und manchmal gar auf höchst spektakuläre und rätselhafte Art. Diesen Fällen nimmt sich ein Mann an: Sherlock Holmes. Dumm nur, dass die Kriminalaffäre, mit der sich der liebenswert-arrogante Meisterdetektiv im 2004 erschienen Point-and-Click-Adventure „Das Geheimnis des silbernen Ohrrings“ herumschlägt, kein bisschen Spektakel aufbieten kann.
Auf einem Empfang in seiner eigenen Villa wird der Geschäftsmann Bromsby erschossen. Hauptverdächtige ist seine Tochter, die jedoch ihre Unschuld beteuert. Holmes, zufällig mitanwesend, nimmt sich der Sache an. Also gilt es, das Anwesen auf Hinweise zu untersuchen und Zeug*innen zu befragen. Dabei manövriert man per Mausklick durch festgelegte 2D-Ansichten der eigentlich dreidimensionalen Spielwelt. Das gestaltet sich teilweise arg hakelig und erschwert die räumliche Orientierung. Beinahe wünscht man sich die Street-View-artigen 360°-Ansichten des Vorgängers zurück …
Auch die Rätsel bieten eher Mühsal als Unterhaltung. Wie im ersten Teil gilt es, den Bildschirm solange mit dem Cursor abzusuchen, bis die winzigen Fundobjekte – mehr zufällig als durch geniale Eingebung – in Holmes‘ Beweiskoffer wandern. Ein Hinweissystem, wie es in die spätere Wii-Version, nicht aber in das PC-Original integriert wurde, hätte gutgetan. Die Umgebungsrätsel dagegen, in denen man das Gefundene kombinieren und in allerlei Gerätschaften einsetzen muss, machen stellenweise Spaß. Allerdings verlangen sie eine fast Holmes’sche Kombinationsgabe, ein Tippsystem gibt es auch hier nicht – wodurch Spieler*innen, deren Ermittlungsgenie … sich eher auf Watsons Level befindet, steckenbleiben oder einen externen Leitfaden konsultieren müssen.
Immerhin weiß „Das Geheimnis des silbernen Ohrrings“ mit seiner Atmosphäre zu überzeugen. Bromsbys Villa und die anderen Schauplätze, zu denen die Ermittlungen führen, sind detailreich und stimmig gestaltet. Die Charaktere sind gut vertont, ihre Animationen aber aus der Zeit gefallen. Untermalt wird das Geschehen von klassischer Musik, wodurch gleich 19.-Jahrhundert-Stimmung aufkommt. Auch die Cutscenes haben trotz ihrer Altbackenheit einige kreative Einstellungen zu bieten, etwa dramatisch-metaphorisch fallende Domino-Steine.
Wäre nur die Geschichte, die sie untermalen, genauso gelungen … Die rangiert auf der geerdeten Seite des Holmes-Spektrum – scheinbar übernatürliche Phänomene gibt es nicht aufzuklären – und hat einen entscheidenden Makel: Zwar führt die Jagd nach Bromsbys Mörder an verschiedenartige Schauplätze, konfrontiert Holmes mit interessanten Gestalten und enthüllt langsam den Tathergang – nur leider so verworren und sprunghaft, dass sich das große Bild erst durch Holmes‘ großen Schlussmonolog zusammensetzt. Dadurch fühlen sich die Plot-Twists, die die Geschichte durchaus aufweist, wenig befriedigend an. Holmes hat den Fall gelöst, wir Spieler*innen nicht.
So bleibt mir nur, meine Hoffnung aus der Kritik zum Vorgänger zu erneuern: Bitte, liebe Nachfolger, habt mehr zu bieten als dieses schwächelnde Rätsel um einen silbernen Ohrschmuck!