Rezension: Eroberung

Alternativgeschichte ist – im Gegensatz zu alternativen Fakten und gewissen selbsternannten politischen Alternativen – ein faszinierendes Konzept. Was, wenn die Übermacht des Imperium Romanum noch ein paar Jahrhunderte angehalten hätte? Wenn die Nazis den 2. Weltkrieg gewonnen hätten? Oder die Sowjets als Erste auf dem Mond gelandet wären? Wenn ein Mercedes im ländlichen Österreich einen kleinen Jungen namens Adolf überfahren hätte? Gut, Letzteres ist die Punchline in einem Studentenfilm, der Werbung für Bremssysteme aufs Korn nimmt, nicht die literarische Auseinandersetzung mit der Frage, wie unsere Welt aussähe, wenn der Lauf der Geschichte ein paar andere Abzweigungen genommen hätte. Einem derartigen Gedankenspiel geht dafür der französische Autor Laurent Binet in seinem Buch „Eroberung“ nach – und zwar in der selten behandelten Epoche der Frühen Neuzeit.

An zwei Stellen greift die Hand des Autors in die Geschichte ein: Zum einen machen isländische Seefahrer aus dem Gefolge Leif Erikssons nicht in Vinland halt, sondern segeln bis nach Südamerika und bringen ihr Wissen über Eisenverhüttung mit. Daher stößt Christoph Columbus 1492 auf überraschend wehrhafte Indigene, die mit dem Überlegenheitsglauben der Europäer kurzen Prozess machen. So verkehrt sich der erste transatlantische Kontakt zu einem Spiegelbild unserer Welt: Nicht europäische Mächte unterjochen Amerika, nein, die Inka erobern Europa.

Wen dieses Konzept an sich reizt, sollte sich vom Klappentext nicht abschrecken lassen. Hier werden Handlungselemente und historische Details verdreht: Der habsburgische Kaiser Karl V. wird etwa kurzerhand zum König von Frankreich, den krönenden Abschluss liefert der prominente Hinweis auf eine Serienadaption, die wohl nie stattfinden wird. Auch der deutsche Titel „Eroberung“ verkehrt die Grundaussage des französischen Originals „Civilizations“ ins Gegenteil. Dennoch verbirgt sich zwischen den hübsch gestalteten Buchdeckeln ein Text, den zu lesen es lohnt.

Voller kreativer Einfälle entführt Binet auf eine Reise durch europäische Großpolitik des 16. Jahrhunderts, die durch die Beteiligung des Inka Atahualpa auf den Kopf gestellt wird. Berühmte Persönlichkeiten der Zeit geben sich die Ehre: Luther und Melanchthon, die Fugger, der osmanische Korsar Barbarossa oder Heinrich VIII. von England. Letzterer ist übrigens vom Inka-Konzept, Herrscher dürften legal mehrere Frauen haben, besonders angetan … Auch prägende Ereignisse und gesellschaftliche Umwälzungen baut Binet in seine Erzählung ein, etwa die Bauernaufstände im deutschen Reich oder die Seeschlacht von Lepanto.

Zum Glück läuft das nicht auf pflichtschuldiges Abarbeiten oder das Abnerden eines studierten Historikers hinaus: Binet weiß die geschichtlichen Grundlagen zu nutzen, um seine zentralen Themen voranzutreiben. Indem er den umgekehrten Kolonialismus in den Mittelpunkt hervorhebt, übt er Kritik am – bis heute andauernden – europäischen Überlegenheitsdenken. Der weltoffene Sonnenglaube der Inka, der andere Gottheiten akzeptiert, wird einem exklusivistischem, ausgrenzendem Christentum gegenübergestellt, das Religion als Vorwand nutzt, um Minderheiten zu verfolgen. Unter den Inka blüht das Reich auf, Hunger ist dank des Kartoffelanbaus ein Problem der Vergangenheit. Doch Atahualpa ist kein Engel: Er richtet politische Feinde hin, führt grausam Krieg und betreibt teils rücksichtslose Machtpolitik, alles mit dem Ziel, sein blühendes Imperium zu erweitern. Das Handeln des Inka bietet genügend Reibungsfläche und Stoff zum Nachdenken, wieweit Herrschaft gehen darf, um ein höheres Ziel zu erreichen. Wenn Kirchen in Sonnentempel umgewandelt, bekannte europäische Herrschaftsfiguren vor ihrer Zeit ermordet und Luthers Thesen überschrieben werden, schluckt man vielleicht als weißer Europäer, getrieben von einem seltsam kollektiv-europäischen Kulturpatriotismus. Und dann erkennt man, dass diese Aufstülpung einer fremden Kultur im 16. und den folgenden Jahrhunderten tatsächlich stattfand, doch weit rabiater und mit anderen Opfern.

Zwischen den zahlreichen Denkanstößen kommt auch der Witz nicht zu kurz. Durch geschickte Referenzen auf unsere Welt verleitet Binet regelmäßig zum Schmunzeln, etwa wenn im Hof des Louvre bereits im 16. Jahrhundert eine Pyramide entsteht. Ein großes Aber bleibt bestehen: Um einen Roman im klassischen Sinne, wie auf dem Cover versprochen, handelt es sich nicht. Binet ahmt mit seinem Text zeitgenössische Quellen nach: zunächst eine nordische Saga und das Logbuch eines Seefahrers, im Hauptteil eine Königschronik. Teils streut er Briefwechsel verschiedener Charaktere ein, um den Eindruck der Authentizität noch mehr zu stärken. Zwar ist der Stil ansprechend, doch sorgt er für eine Distanz zu den Charakteren. Nur Miguel de Cervantes, Autor von „Don Quijote“ und Protagonist des letzten Abschnitts, sowie Atahualpa lernen wir in seinen späteren Kapiteln besser kennen. Auch mangelt es teilweise an szenischem Erzählen.

Diese Stilentscheidung macht „Eroberung“ zu einer anregenden und intelligenten Erzählung, aber nicht zu einem Pageturner. Wer ganz ohne geschichtliches Vorwissen an das Buch herangeht, könnte außerdem von den vielen Namen überfordert sein. Wen das nicht abschreckt, der macht hier einen faszinierenden Ausflug in die Welt des „Was wäre wenn“.

Bewertung:
3.5/5

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