In der Weltgeschichte gibt es Persönlichkeiten, die haben (vermeintlich) so Großes geschaffen, dass wir uns schwertun, das Wie zu begreifen. Uns fasziniert die Frage nach dem Genie hinter dem Werk–besonders in der Kunst. Was muss ein Mensch erlebt haben, um scheinbar aus dem Nichts Farblandschaften zu schaffen, die die Wirklichkeit übertreffen, Melodien zu komponieren, die das Herz berühren, Zeilen zu dichten, die unbeschreibliche Wahrheiten ausdrücken? Oft steckt die Lebensrealität der Künstler*innen hinter dem Spektakel ihrer Kunst zurück.
Trotzdem gibt es immer wieder Versuche, die „größte“ Geschichte jener Menschen zu erzählen: ihre eigene. Filme wie „Tolkien“ oder „Capote“ nehmen die Lebensgeschichte bekannter Schreibender und schaffen dort, wo sie nicht genügend Erzählstoff hergibt, eigene Legenden. Diese Behandlung wurde 2022 auch Emily Brontë zuteil. Die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts tätige Autorin verfasste in ihrem kurzen Leben nur einen Roman, der aber die Zeit überdauert hat: „Wuthering Heights“ (dt. „Sturmhöhe“).
Emily Brontë lebte recht zurückgezogen im Kreis ihrer Familie, Briefkorrespondenz ist nicht erhalten. Ihre Vita ist also verhältnismäßig unbekannt und bietet Regisseurin Frances O’Conner viel Interpretationsspielraum. Sie nutzt ihn, um eine Geschichte zu erzählen, die sich vieler Archetypen des Kostümdramas bedient: die andersartig-verkannte Protagonistin, der gestrenge Patriarch, die neidische Schwester, eine Liebe, die aus Antipathie entsteht. Doch gelingt es ihr, nicht in verklärende Nostalgie zu entschweben. Ihr Film mischt Drama, Romantik und Witz richtigen Verhältnis, um eine mal düstere, mal behagliche Stimmung zu schaffen, die sich weder in Leid noch Kitsch suhlt. An einer Stelle bricht die Erzählung sogar gänzlich aus dem Genre aus und entwickelt Horror-Anleihen.
Getragen wird die Geschichte genregemäß von ihren Charakteren und deren Beziehungen. Zum Glück überzeugt Emily als Protagonistin. Der Film meistert den Spagat zwischen Charakterentwicklung und Konsistenz. Trotz zahlreicher neuer Erfahrungen bleibt Emily ihrem zurückhaltenden Naturell bis zuletzt treu. Dass in ihr dennoch einiges an Witz und Einfallsreichtum steckt, wird durch die Dynamik mit ihren Geschwistern deutlich. Emilys Beziehungen zu den Schwestern Charlotte und Anne sowie dem Bruder Branwell erfahren im Handlungsverlauf regelmäßig Wandlungen und zählen zu den Highlights des Films. Weniger Faszination weckt die zentrale Liebesgeschichte, die zwar nett, aber nach konventionellem Muster dahinplätschert.
Dafür überzeugt die visuelle Ebene durchgehend. Gedreht wurde im ländlichen Yorkshire, der Film strotz vor wunderschönen nordenglischen Landschaften und verwitterten Steinbauten. Windumtoste Hügel und Gewitternächte untermalen die düster-romantische Atmosphäre. Selbst simple Einstellungen – etwa die symmetrische, durch eine Hüttentür gefilmte Aufnahme einer sich nähernden Emily – werden durch hervorragende Kameraarbeit aufgewertet. Ergänzt wird die Bildebene durch den Score Abel Korzeniowskis, der oft klassisch daherkommt, manchmal auch Experimente wagt – und im Intro des Tracks „I Shall Sing“ sogar an Amy Winehouse‘ „Back to Black“ erinnert.
Die einzig wahre Lebensgeschichte Emily Brontës erzählt der Film am Ende nicht. Dafür aber eine mögliche Geschichte, sauber geschrieben, wunderbar gefilmt und definitiv sehenswert.