Rezension: Heldenpicknick – Oder: Warum funktionieren Actual-Play-Podcasts?

Pen-&-Paper-Rollenspiele (P&P) sind ein faszinierendes Erzählformat. Zwar führt eine Person – Spielleiter*in genannt – durch die grundlegende Geschichte, doch auch die übrigen Spieler*innen können das Geschehen durch ihre Entscheidungen beeinflussen. Technische Grenzen wie bei Videospielen sind dieser Interaktivität nicht gesetzt. Hinzu kommt der Reiz des Zufalls, den das Auswürfeln von Erfolg und Misserfolg einzelner Aktionen bietet. Und schließlich ist P&P ein soziales Zusammenkommen, das Menschen mit oft nischigen Interessen in einer Art Lagerfeueratmosphäre vereint.

All diese Aspekte fallen weg, wenn man P&P ins Podcast-Format überträgt. Als Actual Plays bezeichnet man Aufzeichnungen von Rollenspielsitzungen, die sich auf YouTube, Spotify und ähnlichen Plattformen finden. In unterschiedlichen Qualitätsgraden, mal von professionellen Magazinen oder Influencer*innen gehostet, mal aus Hobbyprojekten entstanden erlauben all diese Hör- (und Seh-)Erlebnisse, an den gemeinsamen Rollenspiel-Abenteuern der Hosts teilzunehmen. Die Rezipierenden werden dabei jedoch in eine passive Rolle zurückgedrängt. Warum Actual Plays trotzdem hervorragend funktionieren, will ich heute am Beispiel des „Heldenpicknicks“ zeigen.

Das „Heldenpicknick“ ist ein P&P-Podcast, der in der Fantasy-Welt des „Schwarzen Auges“ angesiedelt ist. Entstanden ist das Projekt im Umfeld des Münsteraner studentischen Online-Magazins „seitenwaelzer“. Seit 2018 wirft Michael Cremann als Spielleiter einen Trupp augenzwinkernd gespielter Heldinnen und Helden in selbsterdachte Abenteuer. Die Aufnahmen werden zurechtgeschnitten und mit Soundeffekten unterlegt, wodurch Hörspiel-Atmosphäre entsteht. Bis 2022 lief der erste Handlungsbogen, durch dessen acht Staffeln – samt einiger Ableger – und zahllose Stunden ich mich nun gehört habe.

Wieso ich dabeigeblieben bin, liegt vor allem an den Charakteren. Die heldenhafte Entourage startet im noch recht laienhaft wirkenden Prolog als Trio, wächst aber bis Staffel 2 auf einen fünfköpfigen Pool an Hauptcharakteren heran. Wir lernen sie als Stereotype kennen: Ein charmanter Diebesgeselle, ein schusseliger Medicus, eine kampferprobte Schildmaid, eine wortkarge Hexe, ein wenig zimperlicher Waldläufer – gesprochen und gespielt von stets denselben Stimmen. So kommt die zentrale Stärke des Mediums Podcast zum Tragen: parasoziale Interaktion.

Dieses Phänomen, das schon seit Jahrzehnten für Tagesschau-Moderator*innen gilt, wirkt auch bei Podcast-Hosts: Die Gesichter und Stimmen, die wir tagein, tagaus vor Augen und Ohren haben, verleiten uns irgendwann zum Irrglauben, die Person dahinter zu kennen. Diese einseitige Beziehung ersetzt kaum echte soziale Interaktion, ist aber ein Grund, warum wir seriellen Formaten – ob YouTube-LetsPlay oder Telenovela – treu bleiben. Wir begleiten die lieb gewonnenen Gesichter, wollen wissen, wie es mit ihnen weiter geht.

Actual Plays wie das „Heldenpicknick“ können diesen Effekt auf doppelter Ebene nutzen. Zum einen wachsen uns die Charaktere ans Herz, die über die Zeit an Substanz gewinnen. Durch organisch im Spielverlauf getroffene Entscheidungen verstehen wir ihre Motive besser, Stereotype weichen auf. Hinzu kommen gezielt platzierte Anklänge einer Hintergrundgeschichte, die im Falle des „Heldenpicknicks“ gerne in Bonusepisoden verfrachtet werden. Die für sich stehende Folge „Mutters Zorn“ klärt etwa über die Säuglingstage des Diebesgesellen Haldorin auf – und liefert dabei stimmige Horror-Atmosphäre. Auch wiederholte Auftritte von Nebenfiguren, die Spielleiter Michael beim „Heldenpicknick“ mit herrlicher Stimmvarianz ins Leben ruft, sorgen für Sympathien und das Gefühl, tiefer in eine zusammenhängende Erzählwelt gesogen zu werden.

Genauso findet abseits der fiktiven Ebene parasoziale Interaktion statt: Denn hinter den gespielten Charakteren blitzt stets die Persönlichkeit ihrer Sprecherinnen und Sprecher durch. Die Grenzen sind fließend. Stärker fallen die Masken der Charaktere in „Behind the scenes“-Folgen, in denen Spielleiter und Spielende über Hintergründe der Podcast-Entstehung plaudern. Doch schon die gelöste Atmosphäre der P&P-Sitzungen evoziert das Trugbild, wir säßen mit Freund*innen oder zumindest guten Bekannten zusammen.

Denn genau wie bei echten Rollenspiel-Runden geht es in Actual Plays selten todernst zu. Das „Heldenpicknick“ bildet hier keine Ausnahme: Witzeleien sind an der Tagesordnung, Nebenfiguren oft schrullig (allen voran der Schnapsbrauer Tönne mit seinem sturen wie trinkfesten Esel Luppe). Ein Großteil des Humors entsteht durch die Spontaneität der Erzählung, unerwartete Reaktionen der Spielenden lockern das Geschehen auf. Wer die ehrfurchterweckende Weltatmosphäre eines Tolkien sucht, ist hier am falschen Ort. Wobei das „Heldenpicknick“ durchaus stimmige Fantasy-Schauplätze schafft.

Besonders die Soundkulisse beeindruckt, mit der sich das „Heldenpicknick“ von vergleichbaren Formaten abhebt. Audiobetten, also mehrminütige Abmischungen, die spezifischen Schauplätzen Leben einhauchen – das rege Treiben einer Stadt, die hallende Leere einer Höhle –, werden kombiniert mit Einzel-Soundeffekten – klirrende Schwerter, fauchende Monster –, teils eigens produzierte Musik rundet das Ganze ab. Das Podcast-Format bietet hier, wie die „Heldenpicknick“-Schöpfer regelmäßig betonen, auch Amateur*innen ohne finanziell potente Studioinfrastruktur im Rücken die Möglichkeit, epische Geschichten in fremden Welten zu inszenieren: Tonkulissen lassen sich aus frei verfügbaren Sound-Datenbanken zusammenbauen oder in der eigenen Küche aufnehmen, wo visuelle Elemente deutlich schwieriger herzustellen sind.

Dieses Umgehen von Gatekeepern im Schaffensprozess bringt manchmal einen gewissen Mangel an Qualitätskontrolle mit sich. So hochwertig das „Heldenpicknick“ vielerorts wirkt, scheint doch an einigen Stellen durch, dass es sich im Kern um ein Hobbyprojekt handelt. So wirkt die übergeordnete Handlung, welche die acht Staffeln zusammenhält, manchmal etwas wirr: Die Heldinnen und Helden reisen quer über den Kontinent, nur um sogleich wieder den Rückweg anzutreten, weil sich die Aufnahmereihenfolge verkehrt hat. Auch die narrativen Schwächen des P&P machen sich bemerkbar. Besonders in den späteren Staffeln wirken die Hauptcharaktere übermäßig mächtig, Kämpfe stumpfen trotz beherzter Schnitte oft in rundenweises Gedresche ab. Es handelt sich eben nicht um ein perfekt durchgeplantes Hörspiel, sondern um eine gewachsene Erzählung, die auf bestimmten Spielregeln beruht.

Ob man Gefallen an Actual Plays findet, liegt letzten Endes vor allem an den Erwartungen, mit denen man an sie herantritt. Ich fand zum „Heldenpicknick“, als ich kränkelnd im Bett lag und nach seichter Unterhaltung lechzte. Ich bekam, was ich suchte – und obendrauf regelmäßige Lachattacken. Dennoch: Literarisch bahnbrechende Höhenflüge bieten Actual Plays wie das „Heldenpicknick“ selten, dafür eine wunderbare Atmosphäre, die vor Leichtigkeit sprüht, herrlich humorige Figuren und Sprüche, gebettet in die gemütliche Sekundärwelt der Fantasy.

Bewertung:
3.5/5

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Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Michael

    Vielen Dank für deine ehrliche Meinung und diese rundum gelungene Rezension. Und von mir ganz persönlich ein herzliches Dankeschön für die Blumen für meine „herrliche Stimmvarianz“!
    Als seichte Unterhaltung ist das ganze von Anfang an gedacht, daher freut es mich, dass das erreicht wurde. Was die etwas wirre Handlung angeht, erklärt die sich vielleicht daraus, dass ich erst in Staffel 3 oder 4 mit Gedanken um einen übergreifenden Handlungsstrang angefangen habe – was der Verwirrung natürlich nicht wirklich abhilft. Das wird im neuen Handlungsstrang „Koboldsmar“ tatsächlich besser.
    Ich wünsche allen Neulingen, die durch diesen Artikel zum Heldenpicknick finden viel Spaß und dir lieber Julian und allen, die so weit sind wie du Freude an „Koboldsmar“!

    Bis zur nächsten Folge: Seien die zwölfe mit euch! 😉

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