Rezension: Die Melodie des Meeres

Wenn über anspruchsvolle Zeichentrickfilme gesprochen wird, die sowohl Kindern als auch Erwachsenen zusagen, fällt schnell der Name „Studio Ghibli“. Doch auch abseits von Hiyao Miyazakis Meisterwerkschmiede finden sich im Zeichentricksegment einige Perlen der Filmkunst. Heute sehen wir uns an, ob „Die Melodie des Meeres“, eine eineinhalbstündige, irische Produktion, auch dazugehört.

Die Hauptcharaktere des Films sind Saoirse (siehe Anmerkung 1) und Ben. Die beiden Geschwister leben auf einer einsamen Leuchtturminsel vor dem irischen Festland. Ihre Mutter ist vor Jahren verschwunden, die einzigen Erwachsenen in ihrem Leben sind der gebrochene Vater und die strenge Großmutter, die sie zu sich in die Stadt holen will. Doch eines Tages ändert sich alles: denn plötzlich werden die irischen Legenden, die ihnen ihre Mutter immer erzählt hat, real …

„Die Melodie des Meeres“ ist ein in vielerlei Hinsicht wunderschöner Film. Die Szenenhintergründe gleichen Gemälden: Melancholisch-geheimnisvoll setzen sie die irische Landschaft in Szene, beschwören phantastische Orte der Sagenwelt herauf und machen aus Gewöhnlichem Beeindruckendes und Surreales. Der einzigartige Animationsstil der Charaktere verleiht Menschen wie Mythenwesen ihren eigenen schrulligen Charme, und häufig wird mit Größenverhältnissen gespielt: Vater und Leuchtturminsel wirken gewaltig, wie durch die Augen eines Kindes, die Antagonistin schrumpft, sobald ihr die Bedrohlichkeit genommen ist. Selbst der visuelle Humor kann überzeugen.

Doch auch abseits der visuellen Ebene hat der Film Bezauberndes zu bieten. Seinen Soundtrack zum Beispiel. Ich glaube, dieser Film ist der erste überhaupt, bei dem mich Gesangseinlagen kein bisschen gestört haben (Gälisch ist aber auch eine wunderschöne Sprache).

Eingebettet in diesen wunderbaren Klang- und Farbenteppich, behandelt die Geschichte Themen wie Verlust, Verdrängung, Geschwisterliebe und Schuldeingeständnis. Auf erstaunlich erwachsene Weise, die jüngere Kinder durchaus überfordern könnte. Es stellt sich also die Frage, welches Zielpublikum der Film anvisiert. Umso besser gelingt es ihm dafür, irische Mythologie auf ansprechende Weise zu vermitteln, darunter Gestalten wie die Selkie, der Riese Mac Lir oder die Eulenhexe Macha sowie das Konzept einer Feenwelt, die parallel zu der unseren besteht und sie doch durchdringt.

Warum also „nur“ 3,5 Sterne? Die Antwort ist einfach: Ich konnte leider nur die deutsche Synchronfassung sehen. Und die hat mich streckenweise aus dem immersiven Strudel, der „Die Melodie des Meeres“ sein könnte, herausgerissen – durch die schwankende Qualität der Kindersprecher sowie die bloße Tatsache, dass ein Film, der irische Folklore zelebriert, zwangsläufig durch Übersetzung an Qualität verlieren muss.

Anmerkung 1: Falls ihr schon immer gefragt habt, wie man diesen schönen, aber für deutsche Lesegewohnheiten doch etwas verwirrenden Namen ausspricht, dieser Film gibt die Antwort: „Sier-scha“ bzw. in englischer Schreibweise „seer-sha“. (Die Schauspielerin Saoirse Ronan spricht ihren Vornamen dagegen wie „Sör-scha“ bzw. „suur-sha“ aus.) Wieder was gelernt …

(zuerst am 6. März 2022 auf Instagram veröffentlicht)

Bewertung:
3.5/5

Neueste Beiträge

The Council – oder: Der Fluch der Interaktivität

Das größte Potenzial des Mediums Videospiel ist gleichzeitig dessen größte Herausforderung: Interaktivität. Entscheidungsfreiheit und erzählerische Finesse erscheinen oft unvereinbar. Hierfür wollte das Entwicklerstudio Big Bad Wolf aber 2018 mit seinem Erstling „The Council“ den Gegenbeweis antreten. Ein überambitioniertes Ziel?

Weiterlesen »

Rezension: Das Bildnis des Dorian Gray (Film von 2009)

Filmadaptionen sind eine Herausforderung. Soll man der Vorlage sklavisch folgen? Oder Anpassungen vornehmen? Die Verfilmung von „Das Bildnis des Dorian Gray“ tut beides – und erweist sich weder als werksgetreue Umsetzung von Oscar Wildes Klassiker noch als spannende Neuinterpretation.

Weiterlesen »

Rezension: Heldenpicknick – Oder: Warum funktionieren Actual-Play-Podcasts?

Interaktivität, Auswürfeln, soziales Zusammenkommen – all diese Aspekte fallen weg, wenn man Pen & Paper ins Podcast-Format überträgt. Die Rezipierenden werden in eine passive Rolle zurückgedrängt. Warum solche Actual Plays trotzdem funktionieren, zeige ich am Beispiel des „Heldenpicknicks“, einem P&P-Podcast in der Fantasy-Welt des „Schwarzen Auges“.

Weiterlesen »

Schreibe einen Kommentar