Rezension: Basilisken, Einhörner & Sirenen

Fabelwesen haben einen Makel. All die fremdartig-faszinierenden Kreaturen, die feuerspeienden und flügelbewehrten, die vielfüßigen, menschenähnlichen, dämonischen und ätherischen, sie existieren nicht. Nicht außerhalb von Sagen, Legenden, Büchern – und den überbordenden Hoffnungen mancher Kryptozoologen. Warum also über sie lesen? Weil diese phantastischen Wesen etwas Tieferliegendes über das menschliche Dasein verraten – so jedenfalls Brunamaria dal Lago Veneri in der Einleitung ihres Monster-Kompendiums „Basilisken, Einhörner & Sirenen“.

Die Autorin versammelt im 2019 erschienenen Band eine beachtliche Riege an Fabelwesen. Geographisch konzentriert sich die Bozener Volkskundlerin auf ihre Heimat, den Alpenraum. Doch auch Ausflüge in die slawische, chinesische, nordische, biblische und (wohl obligatorisch) griechische Mythologie fehlen nicht. Die alphabetisch sortierten Beschreibungen listen Wesensmerkmale auf, erzählen Legenden und Volksmärchen, spekulieren über Namensherkünfte.

Dabei schwankt die Länge der einzelnen Einträge stark. Manche Wesen werden in wenigen Sätzen abgehandelt, andere erhalten mehrere Seiten. Auch der Stil variiert: Mal sind die Einträge nüchtern-sachlich gehalten, andernorts gleichen sie Kurzgeschichten. Einige Fabelwesen scheinen es der Autorin besonders angetan zu haben, etwa Sirenen oder der Wilde Mann, der abgewandelt gleich in mehreren Einträgen behandelt wird. Hier gerät dal Lago ins Philosophieren und wirft mit schwülstiger Prosa um sich. Vielleicht klingen diese Passagen im italienischen Original besser, denn auch andere Abschnitte lassen vermuten, dass durch die Übersetzung Humor und Verständlichkeit gelitten haben.

Dafür überzeugt das Kompendium bei der Auswahl seiner Kreaturen. Zwar fehlen berühmte Vertreter wie Drachen und Zyklopen, aber zu denen gibt es ohnehin genug Literatur. Dal Lago Veneri schenkt stattdessen obskuren, kaum bekannten Wesen Aufmerksamkeit. Zum Beispiel dem Alber, einem Unglück bringenden Feuervogel, zu dem Google nur einen Eintrag ausspuckt, ChatGPT ist gänzlich ratlos. Ähnlich verhält es sich mit dem Beilhund, der ein humoristisches Highlight des Buches darstellt: Dieses axtgrifffressende Biest nähert sich seinem Opfer stets von hinten. Dreht sich dieses um, flitzt der Beilhund so schnell seitwärts, dass er wieder hinter dessen Rücken steht. Daher hat ihn nie jemand gesehen. Welcher schusselige Holzfäller da wohl den Verlust seiner Axt erklären wollte …

Ebenfalls zu loben ist die hochwertige Aufmachung des Kompendiums. Der Stoffeinband mit Silberprägung macht sich gut im Regal und liegt angenehm in der Hand. Im Buchinneren schmücken Illustrationen, die aus alten Manuskripten und Wikipedia Commons zusammengesammelt wurden, fast jede Seite. Querverweise zwischen den Einträgen erleichtern das gezielte Lesen, auf genaue Quellenangaben muss man dafür verzichten.

 „Basilisken, Einhörner & Sirenen“ krankt letztlich am Kontrast zwischen kuriosem Nischenwissen, das Themenneulinge abschrecken könnte, und fehlender Quellentransparenz für Tieferinteressierte. Dennoch bietet die Lektüre interessante Einblicke in die Mythenwelt, den ein oder anderen Schmunzler – und die Erkenntnis, dass die menschliche Kreativität keine Grenzen kennt.

Bewertung:
3/5

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